Dieses 24,6 x 16,5 x 1,7 cm große (große!) Buch widersetzt sich Rezensionsgewohnheiten. Es erzählt nichts, sondern erzählt, wie man Kindern und Jugendlichen und bei Bedarf auch Senioren erzählen kann. Rolf Barth weiß und erklärt, wie man zappelige Buben, gelangweilte Mädchen und daddelnde Jugendliche jeglichen Geschlechts mit Geschichten füttert. Schwer zu sagen, ob es ein Handbuch, Ratgeber, Plädoyer oder Nachschlagewerk ist, am ehesten ist es, wie die Einladung lautet, eine “Reise in 26 Kapiteln”.
Sie beginnt mit dem ermunternden Zitat “… Wenn Bücher als Überlebensmittel nicht mehr zu haben sind, wird es Erzähler geben, die uns von Mund zu Ohr beatmen”, wie Günter Grass, allerdings viel ausführlicher, anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises gesagt. Die Reise endet mit dem Versprechen, „Gedruckte Bücher werden weiter existieren”. Dazwischen finden sich hunderte Tipps, wie Vorleser und Vorlesende die Aufmerksamkeit der Kinder (zurück)gewinnen, welche Bücher, welche Rituale und Hilfsmittel sich je nach Altersgruppe nutzen lassen. Seine Ratschläge für das Erzählen beginnen in der Schwangerschaft und hört mit der Pubertät nicht auf. Zum Thema Babys gibt es eine Erläuterung, wie sich die Synapsen bei Kleinkindern entwickeln und wie sich feststellen lässt, ob in Plastikbüchern Schadstoffe enthalten sind. Für die Größeren geht es um die Entwicklung von Gefühlen, die Nebenwirkungen der technologischen Wunderdinge oder das Erlernen von Empathie als Gegenindikation.
Barth liefert Ideen, um Kinder zu fesseln, ob mit Zauberei, Spielen, Mimik, dem Einsatz von verschiedenen Stimmhöhen. Opas, Lehrerinnen, Erzieher, Mütter, Onkel oder Lesepaten finden nicht nur Anregungen, sie könnten sich womöglich selbst verändern, wenn sie sich mit der Entstehung und Förderung von Vorstellungsvermögen und Forscherdrang befassen. Sie finden Tipps und links und Adressen, jede Menge Buchempfehlungen, aber auch reichlich Erfahrungsberichte des gelernten Erzählers, der Zaubersalz und geruchsintensive Gewürze einsetzt, Fratzen schneidet oder Lesepuppen einsetzt und weiß, wo man die kaufen oder wie man sie selber machen kann. Er begleitet die Kinder und alle denkbaren Vorleser von der Warum-Phase bis zum Einsatz von Poetry-Slam im Schulunterricht.
Mädchen lesen mehr als Jungs, aber gerne glaube ich dem erfahrenen Autor, dass sogar pubertierende Jungs, wenn sie erzählen können, als cool gelten. Rolf Barth hat viele Kinderbücher geschrieben, er hat als Clown, Theaterspieler und “Herr Schreiberling” mit seinem “Lesetheater Wolkenzauber” reichlich Erfahrung auf Bühnen, in Schulen und Kitas, bei Stadtkindern und Dorfjugend gesammelt. Er kennt Gegenmittel, wenn es um die actionintensive Konkurrenz von Spielkonsolen oder iPads geht. Neben den vielen Buchtipps – inklusive Kniebüchern und Hörbüchern, Erzählungen für rebellische Mädchen, solchen über heikle Themen wie Tod oder Krieg, erfährt man auch etwas über die Geschichte des Erzählens, findet Ratschläge zum Unterlaufen von Klischees aller Art, Erziehungshilfe ohne Zeigefinger, Reime und Emojis oder Bauanleitungen für Papiertheater. Es gibt alles, hier kann man es finden, Vereine, die Erzählen fördern, und solche, die Lesepaten suchen oder unterstützen, das Netzwerk Vorlesen, Ratgeber für Lesekreise und vieles andere. Wer weiß schon, dass es Projekte mit so schönen Namen wie “Ohrenspitzer” oder “Ohrka” gibt.
Das Buch ist ein Standardwerk, das sowohl die Lesekompetenz wie die Vorlesekompetenz erhöht, mit teils witzigen, teils kommentierenden Illustrationen versehen, und mit vielen Adressen, Portalen, Blogs und Institutionen – nützlich und unterhaltsam für Eltern, Tanten, Kinder, Vorlesende, Fachkräfte in Kitas und Schulen und alle Leseratten, die schon immer wissen wollten, wie Bücher, Vorlesen und Erzählen überleben können.
Rolf Barth: Bitte noch eine Geschichte! Tipps zum Vorlesen und Erzählen mit Kindern. Diesterweg Edition, 2. erweiterte Auflage, Berlin 2024.